Überflieger mit Bodenhaftung
Main-Echo Pressespiegel

Überflieger mit Bodenhaftung

Raphael Schlegel: Sommerkahler betreibt in Alzenau einen Laden, für den seine Kundschaft zum Teil weite Wege in Kauf nimmt
ALZENAU/SOMMERKAHL  Von un­se­rem Re­dak­teur MI­CHA­EL MÜL­LEREs zählt ge­wiss zu den un­ge­wöhn­lichs­ten La­den­ge­schäf­ten, die Al­zenau zu bie­ten hat. Nie­man­den stört es, dass die­ser La­den nicht di­rekt an der Sie­mens­stra­ße liegt, son­dern in ei­nem Hin­ter­hof. »Wer zu uns will, der fin­det uns«, weiß Ra­pha­el Sch­le­gel.
Seine Kundschaft ist eine sehr spezielle - so speziell, wie sein Unternehmen ist. »Wir machen (so ziemlich) alles möglich, was es im verrückten Fallschirmsport so gibt...« heißt es auf der Homepage von Westerwings. Das ist der Name des Alzenauer Unternehmens, das in Fallschirmspringerkreisen eine wohlbekannte Marke ist.
Fallschirmspringer können sich in Alzenau komplett ausrüsten lassen (wobei rasch die 10.000 Euro-Marke überschritten wird) - und sie können in der Werkstatt Reparaturen in Auftrag geben. »Mit einer Pfaff-Nähmaschine aus dem Jahr 1958 hat alles angefangen«, sagt Schlegel. Das gute Stück hält er noch immer in Ehren.
Vor und nach dem Unfall
»So ziemlich alles möglich machen« - diese Aussage passt zum Leben des Mannes, der im Kahlgrund Wurzeln geschlagen hat. Wobei dieses Leben in zwei Teile zu gliedern ist - in die Zeit vor dem 12. Juli 2013 und die Zeit danach. An jenem 12. Juli machte Raphael Schlegel das, was er zuvor schon sehr oft getan hatte: Er stürzte sich mit dem Fallschirm von der Rombachtalbrücke bei Schlitz (Vogelsberg, Hessen). Die Brücke ist Teil der Schnellbahnstrecke Hannover-Würzburg. Über sie rasen die ICE-Züge mit über 200 Stundenkilometern. Die Base-Jumper aber interessiert die enorme Höhe der Brücke - knapp 100 Meter sind es an der höchsten Stelle zum Boden. Base-Jumper sind Fallschirmspringer, die von einem festen Ort aus springen.
Am 12. Juli ging der Sprung von Raphael Schlegel schief, der Fallschirm öffnete sich nicht richtig. Im Klinikum Fulda wurde der Verunglückte wieder wach. Mit »zwei angeknacksten Wirbeln, einer schweren Kopfverletzung und Sprachstörungen«, zählte die »Fuldaer Zeitung« damals auf. Auch die »Bild« berichtete vom Unglück des »Star-Base-Jumpers«. Als »Star« galt Schlegel, weil er wenige Wochen zuvor beim Wolkenkratzerfestival in Frankfurt mit einem Base-Jump begeistert hatte.
Gelernter Koch
Der Lebensweg von Raphael Schlegel ist alles andere als kerzengerade. Geboren wurde er vor 56 Jahren in Passau. Im Gespräch mit unserer Redaktion überrascht er mit der Aussage, dass er gelernter Koch sei. Das hat wohl nicht so ganz gepasst.
Dafür dies: »Am 8.8.1988 war mein erster Sprung«, als Fallschirmjäger der Bundeswehr. Das »Fieber« hatte ihn gepackt und bis heute nicht mehr losgelassen. Doch sollte es nach der Bundeswehrzeit eine Weile dauern, bis aus dem Hobby ein Beruf wurde. Auf diesem Weg verdiente er unter anderem sein Geld als Sicherheitsbeauftragter von Radio Ostheimer in Mainaschaff.
Dann aber war die Richtung eingeschlagen: Ausbildung zum Sprunglehrer, zum Fallschirm-Wart und zum Fallschirm-Techniker, Tandemsprünge vom Sportflugplatz Mainbullau aus, dort eine erste Werkstatt. »Ich kam mit der Kundschaft klar, hatte einen guten Ruf.« Er fühlte sich in der Lage, einen größeren Schritt zu wagen. »2016 haben wir in Alzenau angefangen.« Von dem Vorhaben, weit weg von jedem Flugplatz ein Geschäft zu eröffnen, habe ihm jeder in der Szene abgeraten. Doch Schlegel hatte das richtige Gespür. Seine Idee war, die eher sachliche Sparte Fallschirmsprung aufzupeppen: Bei ihm sind alle Klamotten und Ausrüstungsgegenstände bunter, schriller, frecher und kreativer.
Bodenständig aber ist er im Punkt Sicherheit. »Da gibt es keine Kompromisse.« Mit seinen zwei Mitarbeitern ist er sich bewusst, welche Verantwortung sie tragen, wenn etwa ein Reservefallschirm geprüft und wieder zusammengefaltet wird, was einmal pro Jahr bei Fallschirmen zu tun ist.
Ein wenig verrückt sein, aber ernsthaft arbeiten - und dies in einem Bereich, der ihn seit Jahrzehnten fasziniert: Raphael Schlegel ist mit sich und der Welt im Reinen. Da sei es zu verkraften, dass er »nur« noch das normale Fallschirmspringen als Hobby pflegt. Base-Jumpen ist seit dem Unfall kein Thema mehr. Das hat er seiner Frau Claudia fest versprochen. »Sie hat mich unglaublich unterstützt«, weiß Raphael Schlegel, der es rückblickend als »ziemlich egoistisch« einordnet, sich Gefahren ausgesetzt zu haben, die Menschen in seinem Umfeld mehr belasteten als ihn selbst.


05.08.2024
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